Ich möchte diese Betrachtungen über den Weg der Heilung der Seele nicht abschließen, bevor ich noch ein Thematik anspreche, die ich in Exerzitien gerne ausführlicher behandle. Es ist der Weg der Heilung des Unbewußten. Er kann hier nur angedeutet werden, aber um seiner Wichtigkeit willen soll er doch kurz erläutert werden.
Der Herr ist ja der Heiland des ganzen Menschen, d.h. seine heilende Liebe soll uns bis in die letzten Tiefen durchdringen.
In den vorherigen Betrachtungen haben wir v.a. das angesprochen, was uns Menschen bewußt ist. Es gibt aber noch einen weiten Bereich in unserer Seele, der uns oft nicht oder nur halb bewußt ist. Es kann vorkommen, daß wir trotz all unserer Anstrengungen und ehrlichen Bemühen, Gott nachzufolgen, bestimmte Probleme nicht richtig in den Griff bekommen, daß sie uns weiter bestimmen und unsere Freiheit beeinträchtigen.
Ich meine damit nicht bestimmte Leiden, die der Herr z.B. dem heiligen Paulus gelassen hat (der „Stachel im Fleisch“ (vgl. 2 Kor 12,7), damit er sich nicht überhebt), sondern innere Lähmungen, unbewußte Bindungen, noch wirksame Verletzungen und Verwundungen, die unsere Reaktion auf bestimmte Lebens-umstände unheil werden lassen. In diesem Zusammenhang spreche ich gerne von Ketten, die uns noch im Unbewußten belasten oder auch binden.
Um es klar zu benennen: Ich meine nicht die üblichen Probleme, die wir durch unsere gefallene Natur und die Folgen unserer Sünden haben, die wir versuchen mit Gottes Gnade zu überwinden, sondern ich spreche von Belastungen, die uns noch in Bereichen festhalten und derer wir uns nicht bewußt sind.
Zum besseren Verständnis beschreibe ich ein einfaches konstruiertes und danach ein erlebtes Beispiel.
Beispiel 1:
Eine Schülerin – nennen wir sie Anna – kommt auf ihrem Weg zur Schule immer an einer Konditorei vorbei. Jedesmal kauft sie sich etwas Süsses. Allerdings beginnt ihre Figur sich zunehmend zu verformen, auch das ihr zur Verfügung stehende Geld reicht kaum aus. Sie beginnt darunter zu leiden und fühlt sich nicht mehr wohl in dem täglichen Genuß der Süßigkeiten. Außerdem merkt sie zunehmend ihre Unfreiheit. Da sie gläubig ist, will sie wenigstens in der Fastenzeit dem Herrn ein Opfer bringen und auf den täglichen Genuß verzichten. Sie betet innig um die Kraft dazu und fasst tatsächlich einen festen Entschluß. Sie meidet einfach diesen Weg an der Konditorei vorbei, und drei Tage ist sie erfolgreich. Am vierten Tag jedoch wankt sie in ihrem Entschluß, geht wieder den alten Weg und landet prompt in der Konditorei. Sie schafft es nun in der Folge nicht mehr, ihren ursprünglich gefassten Entschluß umzusetzen und ist traurig darüber, dem Herrn nicht dieses Opfer gebracht zu haben.
Warum schaftt sie es nicht?
Es ist in ihrem Fall offensichtlich nicht nur die Gewohnheit, die es zu überwinden gilt. Wenn wir in ihre Lebensgeschichte hineinschauen, dann sehen wir, daß sie von ihren Eltern, speziell von ihrer Mutter, oft allein gelassen wurde. Sie vermißte die natürliche Geborgenheit der Liebe der Mutter. Als die Mutter dann nach Hause kam – vielleicht sogar mit einem schlechten Gewissen – brachte sie als Trost immer Kuchen für ihre Tochter mit.
Anna erlebt also die Süssigkeit als eine Art unbewußten Liebesersatz der Mutter. Das eigentliche Problem von Anna ist, daß sie nicht genügend Liebe und daher innere emotionale Sicherheit empfangen hat. Das aber ist ihr nicht bewußt. So schafft sie es nicht, an der Konditorei vorbei zu kommen, ohne sich den „Liebesersatz“ zu holen.
Beispiel 2:
Als ich vor eingen Jahren in Latvia (Osteuropa-Baltikum) mit einigen Gläubigen im Gespräch war, bemerkte ich eine große Traurigkeit in ihren Augen. Ich sprach sie darauf an und fragte, warum sie denn einen so traurigen Eindruck machen würden. Doch ich bekam keine Antwort.
Da ich die Geschichte von Latvia etwas kenne, wußte ich, daß dieses Land sowohl unter dem Sowjetkommunismus als auch unter dem Nationalsozialismus Hitlers sehr gelitten hatte. Deshalb fragte ich die anwesenden Gläubigen, ob sie merkten, was von dieser Zeit noch in ihrer Seele negativ wirksam sei. Wahrscheinlich haben sie sich eine solche Frage nie selbst gestellt. Aber bei dieser Nachfrage von mir kamen zwei Antworten, die sehr tief schauen liessen.
Die eine Antwort hieß: „Wir sind mißtrauisch!“
Die andere Antwort war: „Wir fühlen uns wertlos!“
In beiden Beispielen – das von Anna und von der Erfahrung in Lettland, ist erkennbar, daß das Unterbewußte von negativen Lebensgefühlen geprägt ist, die noch nicht überwunden sind. Im Falle von Anna ist es der Mangel an mütterlicher Liebe und die Bindung an eine Art Ersatz, welcher ihre Freiheit einschränkte, ihren Entscheidungen gemäss zu handeln.
Im Falle von Lettland sind es die Folgen der Besatzungen durch die Sowjetkommunisten und Nationalsozialisten, die ein System der Spionage aufrichteten und die Menschen dort als minderwertig behandelten. Für Lettland kann man vermuten, daß dieses Problem weite Teile der Bevölkerung betroffen hat und noch heute unbewußt in den Seelen nachwirkt und den Ausdruck ihres Lebens mitbestimmt.
Wie sieht nun der Weg der Heilung durch Gott aus?
Zunächst wäre es gut, wenn uns die negativen Wunden, Verletzungen, falsche Informationen usw. bewußt werden könnten, die unsere Seele belasten, was aber nicht in jedem Fall möglich ist. Werden sie uns bewußt, dann können wir sie zu Gott tragen und den Heiligen Geist um Heilung bitten.
Bei Anna sehen wir, daß das Problem tief liegt, denn die mütterliche Liebe, die ihr fehlte, kann nicht durch andere Personen adäquat ersetzt werden. Sie muß einer größeren Liebe begegnen, die diese Wunden heilen kann. Das ist die göttliche Liebe. Anna müßte behutsam mit ihrer inneren Wunde auf den Weg der Heilung geführt werden und den inneren Mangel immer zu Gott hin öffnen. Sie kann dies z.B. vor dem Allerheiligsten Sakrament des Altars tun und die milde Gegenwart Christi in sie eindringen lassen. Wenn sie dann die innere Erfahrung der Liebe Gottes macht, sich in ihr immer sicherer fühlt, ihre innere Leere von Gottes Gegenwart gefüllt wird, dann vermag sie besser gemäß ihrer freien Entschlüsse zu handeln. Ihr inneres Problem ist dann auf dem Weg der Heilung; sie kann sich auch besonders an die Mutter des Herrn wenden.
Im Fall von Lettland muß das Vertrauen wachsen, daß die jetzige Situation in ihrem Leben anders geworden ist, daß nicht überall ein Spion steht, der sie verrät und ausliefert. Das negative Lebensgefühl braucht eine Berührung durch den Heiligen Geist, damit es sich verändern kann.
In Bezug auf das Gefühl der Wertlosigkeit braucht es die tiefe innere Einsicht, daß unser Wert darin besteht, von Gott gewollt, geliebt und erlöst zu sein. Auch wenn Menschen uns anders behandeln, dann beziehen wir doch unseren letzten Wert von Gott und nicht von den Menschen. Hier vermag die bewußte Verinnerlichung von entsprechenden Worten der Heiligen Schrift Heilung schenken.
Ich habe diese Beispiel angeführt, um deutlich zu machen, was ich unter der „Heilung des Unbewußten“ verstehe. In meinen Vorträgen über dieses Thema merke ich, wie nicht wenige Menschen davon berührt werden.
Es bleibt in diesem engen Rahmen der täglichen Betrachtungen nur der Rat, den Herrn selbst zu bitten, auch in das Unbewußte von uns hinabzusteigen und alles zu berühren, was noch der Heilung bedarf. Vielleicht wird uns das ein oder andere klarer. Dann sollten wir es bewußt dem Herrn hinlegen und den Heiligen Geist bitten, es zu berühren. Vielleicht löst der Herr dann Ketten, die uns noch im Unbewußten binden und schenkt uns einen freieren Ausdruck unseres Erlöstseins in Christus.
Bei diesem Thema bitte ich immer den Chor Harpa Dei einen bestimmten heiligen Gesang zu singen. So auch heute, denn es ist der Gesang zur Mutter des Herrn, den wir häufig singen. Wir laden die Menschen ein, ihre Seele einfach der Schönheit des Gesanges zu öffnen…