Die Fülle der Weisheit ist es, den Herrn zu fürchten, trunken macht sie mit ihren Früchten. (Sir 1,16)
Müht Euch um Euer Heil mit Furcht und Zittern (Phil 2,12)
Die Gabe der Gottesfurcht bewirkt, daß in der Seele des Menschen eine große Abneigung gegen die Sünde entsteht, die sich jeder Relativierung und Bagatellisierung der Sünde entzieht. Das ist eine der ersten Lektionen, die der Heilige Geist jener Seele schenkt, die nach Heiligkeit strebt, damit sie bereit wird für den Weg der Vereinigung mit Gott. In der Seele ist schon die Liebe erwacht und sie versteht, daß allein die Sünde sie von Gott trennen kann. Deshalb müht sie sich mit Furcht und Zittern um ihr Heil.
Ein großes Hindernis zum Guten ist der Stolz, der uns anleitet, Gott zu widerstehen und unser Ziel in uns selbst zu setzen. Dieser Stolz zeigt sich in einem Geist des Unabhängkeitsstrebens, im Erstreben einer falschen Freiheit. Dieser Geist ist in unterschiedlicher Intensität wirksam und kann die Seele zu einer eitlen Selbstgefälligkeit führen. Der Fall Luzifers, der nicht mehr dienen sondern herrschen wollte, der seine eigene Herrlichkeit statt die Ehre Gottes suchte, spiegelt sich in jeder noch so feinen Sünde wider.
Gegen diesen Stolz kommt uns die Gabe der Gottesfurcht zu Hilfe. Es ist eine kindliche Furcht, die nicht das Geringste tun möchte, was Gott mißfallen könnte. Sie ist nicht eine knechtische Furcht, die lediglich aus Angst vor der Strafe das Böse meidet und daher leicht starr und eng wird. Die kindliche Furcht hingegen macht den Weg frei zu einer hochherzigen Hingabe. Sie spürt die unermessliche Größe Gottes und gleichzeitig seine Barmherzigkeit. Zwischen diesen beiden Polen reift die Gabe der Gottesfurcht.
Wenn diese Gabe in uns wirksam wird, dann werden wir leichter merken, wenn wir in Gefahr sind, aus einer falschen Selbstsicherheit oder überheblichen Natur heraus etwa leichtfertig zu reden und zu handeln. Diese Gabe wird eine Mahnung in uns sein zu überprüfen, ob das, was wir sagen und tun, der rechten Haltung Gott gegenüber entspricht und sie wird uns immer wieder an Gott erinnern. Je genauer wir diese Stimme des Geistes vernehmen, desto genauer werden uns falsche Haltungen bewußt, die wir dann auch mit der Hilfe Gottes zu korrigieren vermögen. Diese innere Korrektur kann so fein werden, daß es uns sogar geistige Schmerzen bereitet, wenn wir das Gift des Stolzes in uns wahrnehmen. Der innere Blick auf Gott ist schon zu einem Blick der Liebe geworden, der Liebe zum himmlischen Vater, den wir auf keinen Fall verletzen wollen.
Es ist wichtig, daß sich diese Gabe in unserem geistlichen Leben entfaltet, ist sie doch „der Anfang der Weisheit“. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die rechte Ehrfurcht. Das Staunen vor der Heiligkeit Gottes hilft uns, nicht in einer falschen Vertraulichkeit mit Gott zu leben! In der rechten Ehrfurcht werden wir auch geformt, um z.B. die große Gabe der Heiligen Messe tiefer erfassen und die Größe des Opfers Christi besser ermessen zu können.
Mit dieser Erkenntnis können wir leichter jenen Tendenzen entgegenwirken, welche die Ehrfurcht vor den heiligen Handlungen mindern. Wenn Gesten der Ehrfurcht, welchen die Liebe zu Gott zugrunde liegt, durch Weltlichkeit, Geschwätzigkeit, Unachtsamkeit, Bequemlichkeit u.a. in unserer katholischen Kirche immer weniger werden, dann werden die Menschen auch nicht mehr von einer heiligen Stille einer Kirche angezogen, in der Gott leichter ihre Seele berühren kann.
Das Wachsen der Liebe durch die Entfaltung der Gabe der Gottesfurcht verändert auch das Verhältnis zum Nächsten. Denn wenn wir besser realisieren, daß auch er ein geliebtes Kind Gottes ist, dann werden wir unser Verhalten mit der Gabe der Gottesfurcht überprüfen, ob es den Anforderungen der Liebe und Ehrfurcht entspricht. Manches leichtsinnige Sprechen über andere Menschen wird aufhören. Wenn die Gabe der Gottesfurcht wirksamer ist, dann wird insgesamt eine größere Achtsamkeit auf alle Werke Gottes und alle Werte erwachen, die in Gott ihren Ursprung haben. Man kann sagen, daß das Verhalten gegenüber den Mitmenschen und auch gegenüber Gottes Schöpfung zu einem Zeichen werden kann, ob die Gabe der Gottesfurcht in rechter Weise in uns wirksam geworden ist.
Hilfreich für die Entfaltung dieser in uns eingesenkten Gabe Gottes ist das Mühen um eine geistliche Ordnung in unserem inneren Leben, im Sinne der Tugend der Mäßigkeit. Das bedeutet, daß wir mit Hilfe dieser Tugend unsere ungeordneten und daher leicht dominanten sinnlichen Leidenschaften zügeln und den Lockungen zu übermäßigen sinnlichen Freuden widerstehen. So wird die Tugend der Mäßigkeit zur Hilfe für unsere gefallene menschliche Natur mit ihrer Tendenz, sich unguten Neigungen zu überlassen, und sie wird uns auf den rechten Weg des Gebrauchs unserer Freiheit führen.