“Die Gerechtigkeit ist der dauernde und beharrliche Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen.” (Heiliger Thomas von Aquin)
Diese schlichte Definition stellt die Grundlage für die Praxis dieser Kardinaltugend dar. Sie bezieht sich zuerst auf Gott – denn nichts ist gerechter, als Gott den Kult zukommen zu lassen, der ihm als Schöpfer und Vater gebührt: Anbetung, Ehre, Ruhm (vgl. Apk 4,11), Dankbarkeit, die treue Beobachtung seiner Gebote, den demütigen und hingegebenen Dienst, das Vertrauen…
Objektiv betrachtet ist es die höchste Ungerechtigkeit, all dies zu unterlassen, selbst wenn wir sonst bemüht wären, Gerechtigkeit den Menschen gegenüber zu üben, ihre Rechte zu achten und die unterschiedlichen Pflichten am Nächsten zu erfüllen.
Jeder Versuch, die Welt zu gestalten, ohne Gott die Ehre zu geben und uns nach seinen Geboten zu richten, muß scheitern, weil die solide Grundlage fehlt. Wir haben dies in den nationalsozialistischen Grauen, sowie in den kommunistischen Perversionen erleben müssen: Eine Welt ohne Gott wird zu einer öden und gefährlichen Wüste, in der Dämonen ihr Unwesen treiben und die Menschen versklaven. Alle geistigen und ideologischen Systeme, welche nicht auf das Fundament der wahren Gottesverehrung bauen, bringen Unordnung in die Beziehung zu Gott und untereinander.
Von diesem Gesichtspunkt aus wird verständlich, daß religiöse Orden oder einzelne besondere Berufungen, die sich primär dem Gottesdienst und der Heiligung widmen, nicht etwa “nutzlos” sind, weil sie nichts für die Menschen tun, wie man im Gefolge der französischen Revolution dachte. Solch kontemplative Berufungen halten vielmehr die »Ordnung der Welt« aufrecht, und stellen die Gerechtigkeit gegenüber Gott her. Sie wirken sozusagen daran mit, daß das Fundament für die Gerechtigkeit gelegt wird, das in der Welt so oft verlorenzugehen droht.
Selbstverständlich gilt es, die Gerechtigkeit auch den Menschen gegenüber zu üben, denn eine Frömmigkeit, welche die Grundlagen der Gerechtigkeit verletzt, wäre verfälscht. Sorgsam haben wir darauf zu achten, daß wir die Pflichten gegenüber Gott und dem Nächsten gewissenhaft erfüllen und die jeweiligen Rechte achten.
Für die Waffenrüstung im geistlichen Kampf erwähnt der Heilige Paulus ausdrücklich die Gerechtigkeit: “Zieht als Panzer die Gerechtigkeit an.” (Eph 6,14)
In jedem Kampf – und gerade auch im geistlichen Kampf – brauchen wir einen umfassenden Schutz, sodaß die Geschosse des Feindes nicht bis in unser Innerstes eindringen können. Die Gerechtigkeit ist ein solcher Schutz, denn wenn wir uns in ihr bewegen, dann gibt es objektiv keine Stelle, in der man uns Mangel an Sorgfalt gegenüber Gott und dem Nächsten vorwerfen könnte. Der feindliche Angriff findet keinen Schwachpunkt, den er ausnutzen könnte. Wenn man jedoch ungerecht handelt, dann ist man ungeschützt!
Doch ist dies nicht die primäre Motivation, daß wir Gerechtigkeit üben, um unangreifbar zu sein, sondern sie hat in sich einen großen Wert, da sie von der göttlichen Schönheit und Weisheit kündet. So ist sie unentbehrlich als Grundlage für jedes Gelingen des menschlichen Lebens.
Deshalb ist es auch richtig, daß die Kirche sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzt, denn “Gerechtigkeit und Friede küssen sich” (Ps 84,11). Auch sollen die Regierungen für die Erfüllung gerechter Gesetze die entsprechenden Mittel gebrauchen! “Vor dem Gesetz sind alle gleich” – das ist ein hehrer Grundsatz, denn hier sollte es kein Ansehen der Person geben!
Allerdings muß man leider sehr beklagen, daß es auch ungerechte Gesetze gibt, welche einen Staat – zumindest teilweise – zu einem »Räuberstaat« machen. Das gilt z.B. für die ungeheure Ungerechtigkeit, das Leben der ungeborenen Kinder nicht zu schützen oder gar selbst per Gesetz nach diesem Leben zu greifen. Hier werden durch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit die Grundlagen für wahren Frieden und Gerechtigkeit zerstört. Ohne Übertreibung kann man sagen: Wenn dieses Unrecht nicht gesühnt und überwunden wird, dann wird kein wahrer Friede kommen, denn dieser ist immer auf der Gerechtigkeit aufgebaut. Es kann stattdessen ein »Scheinfriede« kommen, welcher in der Tiefe ungerecht ist. Dies dürfte ein Kennzeichen einer neuen antichristlichen Herrschaft sein, die Frieden ohne Gerechtigkeit schaffen möchte, wobei besonders auch die Rechte Gottes nicht geachtet werden.
Die Kirche muß jedoch – bei aller berechtigten Mitarbeit im weltlichen Bereich, um grundlegende Werte zu schützen und zu fördern – immer darauf achten, v.a. für die Grundlage aller Gerechtigkeit Zeugnis zu geben: die Ehre Gottes.
Das bedeutet auch, daß man auf Irrtümer aufmerksam machen muß, die dem rechten Gottesbild im Wege stehen. Diese sind immer ungerecht und fügen dem Menschen Schaden zu. Sie halten ihn von der Erkenntnis der Wahrheit ab. In Bezug auf das bereits erwähnte Unrecht der Abtreibung z.B. kann die Kirche diese nicht wie irgendeine andere Ungerechtigkeit behandeln. Immer muß sie die Stimme erheben, ob gelegen oder ungelegen!