Alle, die meinen täglichen Ansprachen folgen, haben uns auf dem Weg durch das Johannesevangelium begleitet bis zu dem Punkt, an dem der römische Statthalter Pilatus auf Drängen der Feinde des Herrn ihrem Willen nachgab und Jesus zur Kreuzigung auslieferte. Inzwischen sind wir im 19. Kapitel angelangt. Da nun der Weg nach Golgotha mit der bald folgenden Auferstehung des Herrn begann, habe ich die weitere Betrachtung des Johannesevangeliums bis zur Passionswoche zurückgestellt.
Es war ein sehr fruchtbarer Weg mit dem Herrn, verbunden mit großer Freude und Dankbarkeit für alles, was er für die Menschen zur Verherrlichung seines geliebten Vaters tut. Seine heiligen Worte, die Unterweisung seiner Jünger und derer, die ihm mit offenem Herzen zuhörten, haben tiefe Spuren hinterlassen.
Wir haben gehört, wie Jesus immer wieder betonte, daß er vom Vater ausgegangen ist und nichts anderes getan hat, als was er von ihm empfangen hatte, und wie er ihn auf so unvergleichliche Weise verherrlichte.
Wir sind Menschen begegnet, die zwar nicht alles verstehen konnten, was Jesus sagte, die ihm aber Vertrauen schenkten. Wir haben von seinen Heilungen und großen Wundern gehört, die seine Sendung beglaubigten. Aber wir haben auch mit Jesus gelitten, wenn seine Worte die Herzen jener nicht erreichen konnten, die eigentlich schon lange auf das Kommen des Messias vorbereitet waren. Wir haben die Tragik erlebt, daß, je größer die Zeichen waren und je deutlicher er von seiner Sendung sprach, desto mehr Finsternis sich in manchen Seelen ausbreitete, bis hin zum Entschluß, Jesus töten zu wollen.
Wir haben mit dem Herrn gelitten, daß einer, der mit ihm das Brot aß, einer, der mit ihm unterwegs war und all die Wunder und Worte Jesu erlebt hatte, zum Verräter wurde und ihn unter dem Einfluß des Satans seinen Feinden auslieferte. Wir haben die Tragödie des Statthalters Pilatus erlebt, der von den Juden genötigt wurde, Jesus kreuzigen zu lassen, und der, obwohl er von der Unschuld des Herrn überzeugt war, nicht die Konsequenz zog, ihn freizulassen.
Wir sind dem Herrn tiefer begegnet, der aus Liebe zu seinem Vater und zu uns Menschen in »jene Stunde« gekommen ist, in der er für die Erlösung der Menschheit den Tod auf Golgotha erleiden sollte, den wir betrachten werden, wenn wir uns dem Karfreitag nähern.
Als ich dann darüber nachdachte und den Herrn fragte, wie ich ihm und den Menschen mit den täglichen Auslegungen bis zur Passionswoche dienen könnte, begann ich zunächst mit einem Vortrag über die Fastenzeit, der jetzt auf YouTube zu finden ist (https://www.youtube.com/watch?v=6NlrUpqwY4s). Ich habe einige Dinge angesprochen, die für den Weg der Nachfolge Christi hilfreich sein können. Was mir aus dem Vortrag besonders im Herzen blieb, war, daß wir, die wir dem Herrn nachfolgen, gute Jünger sein sollten, die unerschrocken die Wahrheit verkünden und durch unser Leben ein entsprechendes Zeugnis geben.
Ich habe mich dann literarisch ein wenig bei den orientalischen Vätern umgeschaut, die immer darauf bedacht waren, Jesus so authentisch wie möglich nachzufolgen, und bin dabei auf eine Erzählung gestoßen, die mir für die nächste Zeit den Weg gewiesen hat und die sich harmonisch mit meinem Vortrag verbindet.
Ein sogenannter »Abbas Mose« (in der ostkirchlichen Tradition werden die geistlichen Väter so genannt, manche nennen sie auch Starzen, die von den Gläubigen aufgesucht werden, um geistlichen Rat zu erhalten) berichtet, daß sich in der Gegend von Thebais, wo der selige Antonius wohnte, einige geistliche Väter bei ihm versammelten. Das Gespräch ging die ganze Nacht um das Thema, welche Tugend oder Übung einen Mönch vor all den Fallstricken des Teufels bewahren und mit sicherem Schritt zum Gipfel der Vollkommenheit führen könne.
Von Seiten der Väter gab es eine Reihe von Vorschlägen: Die einen sprachen sich für Fasten und Nachtwachen aus, damit der Geist beweglicher sei und sich schneller mit Gott vereinigen könne. Andere betonten, das Einsiedlertum sei der Weg, denn wer in der Stille und Einsamkeit in der Wüste lebe, könne in geradezu familiärer Vertrautheit zu Gott beten und ihm noch inniger anhangen. Wieder andere meinten, der Vorrang gebühre den Taten der Liebe, denn gerade dafür habe der Herr das Reich Gottes verheißen.
Nachdem sie diese verschiedenen Wege ausführlich erörtert hatten, ergriff der selige Antonius das Wort und sagte, daß alle von ihnen genannten Praktiken für den wahren Gottsucher notwendig und nützlich seien. Dann aber wies Antonius darauf hin, daß er auch Fälle von geistigem Absturz erlebt habe, die er auf einen Mangel an Discretio zurückführte.
Das ist also der Begriff, den wir für die ersten Betrachtungen aufnehmen wollen. Antonius meinte damit die weise Mäßigung im geistlichen Leben.
Für uns heute bedeutet der Begriff Diskretion Zurückhaltung und Verschwiegenheit. Doch im kirchlichen Sprachgebrauch hat er eine andere Bedeutung. Hier wird die Discretio im Sinne der Unterscheidung der Geister verstanden.
Die Discretio (vom lat. discérnere: trennen, sichten, auseinanderlegen, unterscheiden) ist die Tugend, die das besondere Kennzeichen des »geistlichen« (griechisch: pneumatikós) Menschen ausmacht, durch die er zur klugen Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Wahr und Falsch, Echt und Unecht fähig ist. In der Vulgata ist discretio die normale Übersetzung von “diakrisis”.
Diese Discretio wird auch im konkreten geistlichen Leben angewandt, eben als weise Mäßigung, auf die sich Antonio bezogen hat, als er die Väter belehrte.
Der heilige Benedikt, dessen Regel Papst Gregor der Große als “regulam discretione praecipuam” – “einzigartig in weiser Mäßigung” bezeichnete (Dial. II, 36), nennt die maßvolle Unterscheidung denn auch mit Recht “mater virtutum” – Mutter aller Tugenden (Reg. 64,19).
Machen wir uns also mit diesem Begriff auf den Weg, die Unterscheidung der Geister, die discretio, auf unseren Willen, wahre Jünger des Herrn zu sein, anzuwenden!