Im Sinne der »discretio« (Unterscheidung der Geister) ist es unumgänglich, die Krise in der Kirche zu betrachten, denn wie sonst könnten wir als Jünger des Herrn die richtigen Schlüsse ziehen, wie wir damit umgehen sollen? Wenn wir die Augen davor verschließen, tun wir so, als hätte sich nichts geändert, und werden selbst zu Trägern modernistischer Irrtümer! Stimmen wir den Irrtümern sogar zu, dann arbeiten wir – ohne es vielleicht zu realisieren – auf der Seite derer, welche die Kirche zerstören oder in eine humanistische Gemeinschaft umwandeln wollen, wie es Dietrich von Hildenbrand so anschaulich beschrieben hat.
Wenn wir schweigen, obwohl wir die Irrtümer zu erkennen vermögen, dann sollten wir uns die Worte Papst Felix III. zu Herzen nehmen: “Sich einem Irrtum nicht zu widersetzen, bedeutet, ihn zu billigen, und die Wahrheit nicht zu verteidigen, bedeutet, sie zu unterdrücken.”
Andererseits darf uns die Erkenntnis des Irrweges der kirchlichen Hierarchie nicht so erschüttern und verwirren, daß wir resignieren oder gar versucht sind, die Kirche zu verlassen und uns einer anderen Konfession anzuschließen. Das wäre der falsche Weg!
Die katholische Kirche ist und bleibt die vom Herrn gestiftete Kirche, auch wenn sie von innen und außen angegriffen wird.
Vielmehr sind wir in dieser Krise aufgerufen, die Verantwortung wahrzunehmen, die jeder Einzelne für den heiligen Glauben hat und in Zeiten der Bedrohung noch stärker wahrnehmen muß. Wer die massive »Verwüstung des Weinbergs« zu erkennen vermag, muß sich vom Herrn der Kirche zeigen lassen, wie er ihr entgegenwirken kann. Daraus wird ein Aufruf zum Kampf, der mit geistlichen Waffen geführt wird, um die Heiligkeit der Kirche zu verteidigen. Auch wenn sich viele Katholiken der existenziellen Bedeutung der gegenwärtigen Krise nicht bewußt sind, so erwachen doch manche Katholiken aus dem »vergifteten Alptraum«, wie der verstorbene Kardinal Pell die gegenwärtige kirchliche Situation beschrieben hat. Je früher, desto besser, damit das schleichende Gift falscher Lehre und Praxis ihre Seele nicht weiter verdunkeln.
Die Richtung ist vorgegeben! Es gilt, alle Lethargie abzulegen, aber auch keinen ungesunden Übereifer an den Tag zu legen. Man ist gerufen, sich in geistlicher Nüchternheit und Entschiedenheit seiner Verantwortung bewußt zu werden und diesen geistlichen Kampf freimütig aufzunehmen. Der durch die »discretio« wahrgenommene Zustand an der Spitze der Kirche verlangt nach der richtigen Antwort. Nicht das von Gott gegebene Petrusamt wird infrage gestellt, sondern die Art und Weise, wie es ausgeübt wird und zur Verwirrung der Gläubigen führt. Wenn dieses Amt durch seinen gegenwärtigen Träger unter fremden Einfluß geraten ist und in einem »anderen Geist« als dem Geist des Herrn ausgeübt wird, verliert es seine geistliche Autorität, und religiöser Gehorsam kann von den Gläubigen nicht mehr verlangt werden.
Ohne die Achtung vor dem Amt als solchem zu verlieren und ohne die Person, die es ausübt, herabzuwürdigen, muß eine klare Zäsur gezogen werden: Es gibt keine Kooperation mit dem Irrtum, sondern eine klare Zurückweisung, wie es z.B. auch der heilige Thomas von Aquin ausdrückt: “Es muß jedoch beachtet werden, daß ein Untertan seinen Prälaten auch öffentlich zurechtweisen sollte, wenn der Glaube in Gefahr ist” (Summa Theologica, II-II, q. 33, a. 4, ad 2).
Gehen wir noch einen Schritt weiter, damit die ganze Dimension der Situation und auch des geforderten Kampfes sichtbar wird. Es würde nicht ausreichen, auf der menschlichen Ebene der Problematik stehen zu bleiben.
Die »discretio« stellt hier eine einfache Frage: Wenn sich Irrtümer in die kirchliche Verkündigung einschleichen, wenn Feinde in der Kirche wirken, wenn eine humanistische Umformung stattfindet, wenn moralische Entgleisungen zu beklagen sind, wenn statt Klarheit und Orientierung Verwirrung unter den Gläubigen um sich greift, wenn den Menschen das Evangelium nicht mehr authentisch verkündet wird. Wer ist hier am Werk?
Die Antwort ist eindeutig: Es sind satanische Mächte, namentlich Luzifer, die großen Einfluß auf die Kirche gewonnen haben. Ich erinnere an meine Auslegungen des Johannesevangeliums: Jesus scheute sich nicht, den verstockten religiösen Autoritäten zu sagen, ihr Vater sei der Teufel (Joh 8,44), oder dem Apostel Petrus klar zu machen, daß hinter dem menschlich verständlichen Versuch, ihn vom Gang nach Jerusalem abzuhalten, der Teufel der Drahtzieher war (Mt 16,23).
Die gegenwärtige Verwirrung in der Kirche, die bis in ihre Spitze, in ihr höchstes Amt hineinreicht und es in den Dienst der Finsternis stellt, ist ein wesentlicher Teil des Planes der Mächte der Finsternis, das authentische Zeugnis Jesu durch seine Kirche zu ersticken oder zu verfälschen. Das muß man klar erkennen, damit die richtigen Maßnahmen für den geistlichen Kampf ergriffen werden können. Ein Jünger des Herrn muß um diese Zusammenhänge wissen!
Der heilige Paulus sagt: “Wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen” (Eph 6,12).
Diese Sicht hilft uns auch, nicht im menschlichen Bereich der so notwendigen Auseinandersetzung stecken zu bleiben, sondern die Waffen zu ergreifen, die uns der Völkerapostel vor Augen stellt (Eph 6,13-17).
Die »discretio« ruft uns dazu auf, bewußt in den geistlichen Kampf einzutreten, der uns zur Ehre gereicht und zugleich unser geistliches Leben vertiefen wird. Diese Vertiefung ist notwendig, um mit der Gnade Gottes im Kampf bestehen zu können.