Liebe Leser!
In den kommenen Tagen werden wir den gewohnten Rahmen der Schriftauslegungen nochmals verlassen und ein wichtiges Thema zur Sprache bringen, welches für die Nachfolge Christi sehr dienlich sein kann. Der zugrundeliegende Text ist recht anspruchsvoll und von Pater Dr. Paulus Sladek OSA verfaßt. In vieler Hinsicht kann er dienen: Zunächst zur besseren Selbsterkenntnis, die wesentlich zu einem authentischen geistlichen Leben gehört. Dann hilft uns der Text, die Unterscheidung der Geister gründlicher zu vollziehen und Menschen, welche in der Selbsttäuschung leben oder zumindestens partiell davon betroffen sind, vielleicht eine Hilfestellung geben zu können, wobei man sich über die Kompliziertheit einer solchen Aufgabe keine Illusionen machen darf. Wenigstens können wir dafür beten, daß die Menschen aus ihrer Selbsttäuschung aufwachen!
Text von P. Sladek:
Die weitverbreitete Blindheit des Menschen im Hinblick auf das eigene Herz, die schon der Herr bei den Pharisäern geißelt, wurzelt in einer weit verbreiteten Selbsttäuschung, die sich notwendig aus der erbsündigen Neigung zum Bösen ergibt. Die Neigung zur Selbsttäuschung ist die gefährlichste Tatsache, die mit der “Schwächung des Verstandes und des Willens” durch die Erbsünde gegeben ist. Es ist bedauerlich, daß die bisherige Theologie unter den Folgen der Erbsünde die Neigung zur Selbsttäuschung nicht eigens anführt, auf die doch bereits die Schilderung des Sündenfalls in der Hl. Schrift hinweist. Das erschreckende Ausmaß der Selbsttäuschung, in die sogar religiöser Eifer hineingeraten kann, macht das Wort deutlich, mit dem Jesus seine Jünger auf das Martyrium vorbereitet: “Ja, es kommt die Stunde, wo jeder, der euch tötet, Gott damit einen heiligen Dienst zu erweisen glaubt” (Joh 16,2).
Sünde und Selbsttäuschung sind notwendig miteinander verknüpft. Wenn die Sünde, psychologisch gesehen, den Versuch des Menschen darstellt, die gottgeschenkte Sehnsucht seines Herzens nach Glück, Vollkommenheit und Freiheit und damit nach Liebe und Macht aus eigener Kraft und in eigenwilliger Weise zu erfüllen, ist die Selbsttäuschung der Versuch, sich selber das Bewußtsein, wie Gott von Fehlern und Sünden frei zu sein, zu verschaffen. Die eigenen Fehler und Sünden kann der Mensch selber aber nur durch Selbsttäuschung d.h. durch Selbstbelügung beseitigen.
Bei der Selbsttäuschung mißbraucht der Mensch die Fähigkeit, Unwichtiges zu vergessen, d.h. aus dem Bewußtsein fallen zu lassen. Der Mensch ist darauf aus, Unangenehmes zu “verdrängen”. Nichts aber ist für den Stolz und die Eigenliebe des Menschen unangenehmer als die eigene Schuld. Je größer daher Stolz und Eigenliebe des Menschen sind, um so mehr strebt er unbewußt, aber gezielt, nach einem “guten Gewissen” und baut sich eine lügenhafte Überzeugung des eigenen Gutseins, ein selbstgemachtes Selbstwertgefühl auf. Die Selbsttäuschung ist zwar unbewußt, aber gewollt. Das bestätigt die Analyse des Wortes. Wie “Selbsthilfe” bedeutet, daß einer seine ganze Kraft einsetzt, um sich selbst aus einer Schwierigkeit herauszuhelfen, so besagt das Wort “Selbsttäuschung”, daß der Mensch seine ganze Kraft einsetzt und einsetzen will, um sich zu täuschen und nicht zu sehen, wie er wirklich ist. Selbsttäuschung ist ein Wunschdenken. “Der Wunsch ist der Vater des Gedankens”. Da wir uns möglichst gut und fehlerfrei sehen wollen, beeinflussen wir unbewußt unser Denken, so daß wir nicht mehr sehen, wie wir wirklich sind, sondern so, wie wir wünschen zu sein. Das Gefährlichste dieses Verhaltens aber liegt darin, daß Absicht und Übung der Selbsttäuschung peinlichst vor dem eigenen Bewußtsein verdeckt, in das Unbewußte verdrängt werden. Der Mensch ist sich also nicht bewußt, daß er die Wahrheit über den Zustand seines Herzens nicht kennt und sie auf keinen Fall kennen will. Da die Selbsttäuschung im freien, wenn auch unbewußten Wollen wurzelt, ist der Mensch für sie und seine Blindheit verantwortlich. Die scharfe Verurteilung der Pharisäer durch Jesus ist daher auch im Lichte der Tiefenpsychologie durchaus berechtigt.
Die Selbsttäuschung ist so weit verbreitet wie Stolz und Eigenliebe und die Neigung zum Bösen. Sie wird bereits in der Kindheit geübt, etwa vom vierten Lebensjahr an, wenn das Kind die ersten bewußten Sünden begeht. Die grenzenlose Offenheit und Wahrhaftigkeit des Kleinkindes ist allgemein bekannt (vgl. die zahlreichen Anekdoten über das “enfant terrible”). Das Kleinkind sagt ehrlich: “Franz will nicht brav sein”. Später aber sagt das Kind: “Franz kann nicht brav sein”. Es schiebt die Verantwortung für seine bösen Regungen in das Unbewußte. Die jahrelange Praxis führt schließlich zu der Überzeugung: “Ich will ja das Gute, aber ich kann nicht!” So lautet eine der beliebtesten Parolen der Selbsttäuschung beim Erwachsenen. Er glaubt, seinen Trieben und Leidenschaften ohnmächtig ausgeliefert zu sein und lügt sich vor: “Ich kann nichts dafür. “Es” ist stärker als Ich!” (Leugnung der bösen Absicht, Ausrede, Beschuldigung anderer, Verschwommenheit der Begriffe und des ganzen Denkens bei der Selbstprüfung – vgl. etwa die Doppeldeutigkeit von “Liebe”-, Abschwächung oder Leugnung der Verantwortlichkeit u.a.m.) So wird ein gewohnheitsmäßiges Verhalten für bestimmte Situationen aufgebaut, das in der Seele automatisch und unbewußt abläuft. Weil der Mensch die Selbsttäuschung im egoistischen Interesse übt, entwickelt er unbewußt einen leidenschaftlichen Widerstand gegen die Aufdeckung seiner Lebenslüge. Der Stolz erlebt die eigene Schuld als ungerechte Erniedrigung, gegen die er sich leidenschaftlich zur Wehr setzt. Die Folge dieses Widerstandes, der in der Tiefenpsychologie als neurotisches Symptom bekannt ist, ist die weit verbreitete Unlust, eine gründliche Gewissenserforschung zu halten und seine Sünden ehrlich zu bekennen, der man heute allgemein viel zu viel nachgibt.